Wir leben in einer Zeit, in der Brillen längst keine reinen Sehhilfen mehr sind. Sie sind „Accessoire“, bisweilen gar „Statement“. Längst nicht mehr ihrer ursprünglichen Funktion, sondern dem Trend verpflichtet. Und doch gibt es Hersteller, die unternehmerisch bei sich geblieben sind. Denen es um die Sache geht und schon immer ging. Seit Generationen. Ausgerechnet in dem Land, aus dem so viele Hypes kommen, die Altbewährtes weggespült haben. Aus dem Meltingpot. Aus New York.
Wir schreiben das Jahr 1899. Auf Ellis Island betritt ein Einwanderer aus Osteuropa amerikanischen Boden. Sein Name: Hyman Moscot. Wie so viele, die in jener Zeit ihr Glück und ihre Zukunft in der neuen Welt suchen, hat Hyman seine Fähigkeiten und eine Idee im Gepäck. Er stellt Sehhilfen her, Brillen, und verkauft sie von einem Handkarren aus in Manhattans berühmter Lower East Side, genauer: auf der Orchard Street.
Schon 1915 hat er so viele treue Kunden für sich und seine Produkte gefunden, dass er ein Ladenlokal eröffnen kann, zunächst in der Rivington Street. Nachdem auch sein Sohn in noch jugendlichem Alter das Geschäft des Vaters unterstützt, wechselt Moscot Mitte der 30er Jahre auf die Orchard Street, wo Hymans geschäftliche Wurzeln liegen. Nunmehr gekommen, um zu bleiben.
In den Jahrzehnten, die folgen, entwickelt sich das Unternehmen. Generation um Generation steigt in die Company ein und führt das familiäre Erbe fort. Heute wird Moscot in vierter und fünfter Generation geführt von Harvey und seinem Sohn Zack.
Worin liegt ihr Erfolg? Was hat sie bestehen lassen? Worin liegt ihr Unterschied zu anderen Herstellern von Brillen und Fassungen – bis heute?
Harvey Moscot, in vierter Generation im Unternehmen, betont die Wichtigkeit der Brille als Sehhilfe. Für ihn ist es zu allererst Gesundheitsfürsorge. Ihr hat er sich beruflich verschrieben, durch Ausbildung und Studium im Bereich Optometrie. Ebenso wie Gläser, bedürfen auch Fassungen der Exaktheit in Konzeption und Fertigung, um das bestmögliche Sehergebnis und -erlebnis für die Kundschaft sicherzustellen. Diesen Anspruch des Dienstes am Kunden setzt Moscot bis heute in eigenen Laboratorien und Werkstätten bis ins kleinste Detail um. Fachkompetenz geht über alles. Unaufgeregt. Selbstverständlich.
Zugleich legt man von jeher und bis heute großen Wert darauf, am Ende des Tages einfach der „Optiker aus der Nachbarschaft“ zu sein, mit engen Bindungen an die eigene Kundschaft. Diese Bindung besteht nicht selten ebenfalls schon seit Generationen. Es sei für ihn etwas sehr Besonderes, erläutert Zack, in fünfter Generation dabei, bisweilen Kunden zu bedienen, deren Großeltern bereits bei Moscot Kunden waren.
Zack ist als Designer engagiert. Es ist ihm wichtig, neben der Fortschreibung der klassischen Modelle auch bei Neuentwicklungen die Sprache und das Erbe der Marke zu bewahren. Aus ihm spricht der Stolz auf die Qualität, die das Unternehmen mit seinen Produkten anbietet, seit Generationen.Tatsächlich kommen Moscot-Modelle klassisch daher. Viele seit Jahrzehnten im Programm, sind sie von einer Zeitlosigkeit geprägt, die keine Spur langweilig wirkt, sondern dem Gesicht, der Person und der Persönlichkeit Raum lässt. Der Mensch bleibt mit und hinter der Brille stets sichtbar, sie kleidet ihn, ohne zu verkleiden. Die Moscot-Brille dient als Sehhilfe. Und sie schmückt auf selbstverständliche Art, weltgewandt und polyglott, ihrer Herkunft getreu.
Beschäftigt man sich näher mit dem ausschweifenden Angebot an Fassungen, so findet man dies in zwei Kollektionen aufgeteilt, „Spirit“ und „Originals“. Die „Spirit“-Kollektion enthält durchweg klassische Rahmen, etwas feinnerviger vielleicht als die der „Originals“-Kollektion. Keinerlei Mode unterworfen, aus keiner und zu keiner Zeit, bringen sie das Selbstverständnis von Moscot auf den Punkt, so, wie es seit jeher war, bewahren es und tragen es durch Weiterentwicklung mit neuen Einflüssen in die Zukunft. Die „Originals“ sind Modelle, die klar vom Design aus Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts inspiriert sind – oder aus dieser Epoche stammen.
Im Laufe der Jahrzehnte brachte die Familie mit ihrem Unternehmen so Gestelle hervor, die sich nicht nur nach und nach einen treuen, internationalen Liebhaberkreis erschlossen, sondern auch in den Gesichtern von Prominenten und auf der Leinwand zu Berühmtheit gelangten und einen gewissen „Kultstatus“ genießen.
Allen voran dürfte hier das Modell „LEMTOSH“ zu nennen sein, nahezu untrennbar verbunden mit Johnny Depp seit dem Film „Das geheime Fenster“. Das Modell „MILTZEN“, benannt nach dem Rufnamen eines Onkels aus der Familie, wurde bereits von Truman Capote geschätzt, im Gesicht von Andy Warhol hielt diese Fassung aus den 1930er Jahren Einzug in den Tempel der Popkultur. Das Modell „TINIF“, handgefertigt aus einer Kombination von Metall und Acetat, verkörpert wie kaum ein anderes die Gabe von Moscot, Brillen herzustellen, die ihren historischen Ansatz nicht verleugnen, um im nächsten Moment ihren Platz im modernen New York und der Welt zu behaupten.
So entsprechen diese Brillen in bester Weise dem bis heute familiengeführten Unternehmen, das sie herstellt. Sie sind ein Teil von New York, sie sind eine Institution. Und sie stammen aus einem Optikergeschäft aus der Nachbarschaft. Bis heute hat niemand bei Moscot die Anfänge des Unternehmens vergessen. Hymans Handkarren aus den frühen Tagen auf der Orchard-Street ist wie ein Logo und ziert bis heute auch die Innenseite der Bügel. Diese feste Verwurzelung in Lower East Side, Manhattan, die Präsenz des Unternehmens an der Orchard Street, bringt Harvey Moscot auf den Punkt: „We’re born in Orchard, we’ll die in Orchard.“
Der Kreis derer, die Moscot-Brillen zu schätzen wissen, geht längst in die Millionen, ungeachtet der Celebrities in allererster Linie anspruchsvolle Brillenkunden weltweit. Sie alle bekommen mehr als einfach eine Brille. Sie bekommen, so Zack Moscot, ein Stück New York, ein Stück Geschichte, ein Stück Familie.
Sein Vater Harvey streicht die Bedeutung der Brille als Sehhilfe heraus für diejenigen, die sie wirklich benötigen: „It’s the first thing you take on in the morning and the last thing you put away at night.“ Dieser Bedeutung möchten sie bei Moscot bestmöglich gerecht werden. Seit mittlerweile fünf Generationen. Bis heute.
Autor • Hauke Sieverts
Foto • Moscot
Erschienen in der Heritage Post No. 51