Sichtbarkeit ist eine Falle

Sichtbarkeit ist eine Falle

Das Jahr 2022 hat Europa den Krieg in Form einer vom russischen Machthaber zynisch euphemistisch als „Sonderaktion“ titulierten, militärischen Großoffensive in der Ukraine beschert. Seit Februar des letzten Jahres werden wir mit einer Flut von Bildern aus dem osteuropäischen Land überschwemmt.

Panzerkolonnen und Truppenbewegungen. Aufnahmen von nächtlichen Angriffen. Grell leuchtendes Raketenfeuer bringt den Himmel über Städten, die den unseren zum Verwechseln ähnlich sahen, zum Glühen. Menschen auf der Flucht, bombardierte Autokolonnen. Männer und Frauen in Tarnanzügen und der Präsident eines europäischen Landes, der volks- und soldatennah in militärgrünem T-Shirt Durchhalteparolen wiederholt und sich mit dringlichen Bitten um Waffenlieferungen an eine gebannt, bald aber abgestumpft auf den Fernsehschirm starrende Weltöffentlichkeit wendet.

Zeitgleich erlebt auf den Laufstegen der Welt, in den Cafés, Clubs und Straßen der Metropolen allerlei militärisch Anmutendes – Parkas, Sturmhauben, Westen und die gute alte Camouflage – eine Renaissance. Aufgeregt fragen sich manche, ob das geht, ob man das heutzutage angesichts der stattfindenden Kriegsgräuel überhaupt noch tragen darf. Die Antwort ist nicht einfach. Eine Spurensuche.

Vorweggestellt: Militärisches findet seit jeher seinen Weg in die Mode. Anzugschnitte, Zweireiher, Schulterklappen (Epauletten, ein herrliches Wort) und so manches mehr haben ihren Ursprung in Uniformen. Vieles davon ist einfach praktisch. Einiges ist vermutlich aus Lust an der schneidigen Darstellung ins zivile Leben übergegangen. Sturmhauben und Parkas sind großartige und praktische Kleidungsstücke. Doch was ist eigentlich mit Camouflage?

Das Offensichtliche einmal betonen: In einer Welt, in der sich fast jedes Geschöpf beinahe ununterbrochen vor Angriffen anderer Wesen in Acht nehmen muss, hat die Evolution der Fähigkeit, sich vor den Blicken des Fressfeindes zu schützen und oder irreführende Signale zu senden, viel Gewicht verliehen. Egal ob Jäger oder Gejagter, nur wer möglichst gut an eine feindselige Lebenswelt angepasst ist, hat klare Vorteile.

„For every tiger that you see, five see you.“ 
Redensart, Madhya Pradesh, Indien

Jagende Menschen haben das früh verstanden. Der Apex Predator, von der Natur mit nur wenig Tarnung, aber viel Ausdauer ausgestattet, musste sich mittels angeeigneter Techniken gegen seine Sichtbarkeit behaupten. Schon Jäger früher Kulturen bedienten sich diverser Hilfsmittel. Nomadenvölker in den Prärien Nordamerikas hüllten sich auf der Jagd in Felle, um sich den schreckhaften Bisons zu nähern. Jäger anderer Völker versteckten sich unter Decken, die in den Farben der Umgebung gehalten wurden, beschmierten sich mit Erde oder malten sich an. Eins zu werden mit der Umgebung war und ist auf der Pirsch von Vorteil. Wobei es – auch das lehrt die Natur – nicht in erster Linie darum geht, sich im Ruhezustand anzupassen, sondern in Bewegung unauffällig zu bleiben.

Interessanterweise geriet die Logik der Tarnung für viele Jahrhunderte zumindest im militärischen Kontext eher in Vergessenheit. Bis Anfang des letzten Jahrhunderts nämlich glichen viele Uniformen westlicher Streitkräfte eher bunten Faschingskostümen. Auf den Schlachtfeldern begegnete man sich noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in Reih und Glied und – farbenfroh. Befehlshaber ließen Trommeln wirbeln und kündigten die Angriffe ihrer Einheiten mit musikalischem Tamtam an. Soldaten liefen von weitem sichtbar aufeinander zu. Englische Truppen trugen leuchtend rote Jacken, Franzosen kämpften in Blau, Österreicher in Weiß, während Russen sich ebenfalls in Blau aber auch in Dunkelgrün uniformierten. Die Hauptfunktion dieser Uniformen war, sich vom Gegner optisch abzugrenzen und den Mitstreiter im Chaos der Schlacht zu erkennen. Es waren identitätsstiftende Kostüme. Wie Fußball-Trikots. Sich zu tarnen oder den Gegner gar aus dem Hinterhalt heraus anzugreifen, galt lange Zeit als feige oder eben als hinterhältig.

In seinem Standardwerk „Vom Kriege“ prägte Carl von Clausewitz 1836 den Begriff „Kriegstheater“, um den Ort militärischer Auseinandersetzung zu bezeichnen. Damalige Kriege hatten etwas stark Performatives, etwas Theatralisches. Doch noch heute findet die Formulierung „Theatre of operations“ euphemistische Verwendung.

„Invisibility in everything is the thing we aim at in modern war”
Solomon J. Solomon (1860-1927), britischer Künstler und Camoufleur, 1916

Merkwürdigerweise war es gerade die moderne Technisierung des Krieges, die die Tarnung am Anfang des letzten Jahrhunderts verstärkt auf die Schlachtfelder brachte. Die Graben- und Stellungskämpfe des ersten Weltkrieges hatten schnell jeden Reiz des Theatralischen verloren. Das Gemetzel an den Eingebuddelten schleppte sich trotz – oder gerade wegen der beschleunigten Kriegsmaschinerie – über zermürbende Monate und Jahre dahin. Neue, präzisere Waffen machten ein Töten aus der Distanz möglich. Scharfschützen entdeckten aus Hunderten von Metern jede noch so kleine Bewegung des Gegners. Panzer rollten tosend über Kontrahenten hinweg. Fluggeräte und der Einsatz von Fotografie ermöglichten noch nie gekannte Aufklärung über Bewegung und Stellung des Feindes. Es galt, sich bedeckt zu halten. Wer sichtbar war, saß in der Falle. Mit rotleuchtendem Rock wollte kein General seine Männer verschleißen. Schlichte Grau-, Braun- und Grüntöne bestimmten den Look des ersten globalen Krieges. Einfache, industriell gefertigte Stoffe für das industriell betriebene Abschlachten der einfachen Leute.

Obwohl der amerikanische Künstler und Naturforscher Abbott Henderson Thayer um die Jahrhundertwende eine Reihe Abhandlungen zur Tarnung im Tierreich schrieb und seine Erkenntnisse sowohl dem amerikanischen als auch dem britischen Militär zur Weiterentwicklung angeboten haben soll, waren es die Franzosen, die als erstes Land die neu entstandene Notwendigkeit zum Versteckspiel erkannten und entsprechend handelten. Die Leitung der französischen Armee bestellte schon im Jahre 1915 eine Einheit, die sich eigens mit der Tarnung von schwerem Gerät und Waffen befassen sollte. Der Künstler Lucien-Victor Guirand de Scévola führte die „Section de Camouflage“ an. Hier arbeiteten Maler, Bühnenbildner und Bildhauer gemeinsam, streng geheim und erfolgreich an diversen Projekten. Innerhalb kürzester Zeit hatte jede am Krieg beteiligte Nation eigene Camouflage-Abteilungen, die in Ermangelung besserer Produktionsmöglichkeiten Stoffe händisch färbten und schweres Gerät bemalten. Meldetauben wurden in schwarze Farbe getaucht, damit sie wie Krähen wirkten. Die Briten experimentierten mit zackigen Störmustern – dem sogenannten Dazzle Design, um Form und Größe ihrer Kriegsschiffe zu tarnen. Riesige Leinwände wurden gestaltet, die heraneilende Bodentruppen zeigten. Es wurden hohle Baumattrappen konstruiert, die als Spähstationen dienten und großflächige Netze mit Gewebe versehen, um schweres Geschütz zu verstecken. Man legte menschenähnliche Puppen aus, die Verletzte simulierten und über Seilzüge bewegt werden konnten. Mit ihnen lockte man den Gegner aus den Schützengräben. Mitten in die Sprengfalle hinein. Mitten ins Visier der Scharfschützen. Es wurde getäuscht, versteckt und getarnt. Camouflage war nicht nur ein Mittel der Verteidigung, sondern auch eines des Angriffs. (Einen hervorragenden, wenn auch knappen Einblick in diese Frühzeit der Camouflage bietet Carsten Sobeks Text: Die Kunst der Tarnung in der The Heritage Post Nr. 9)

Mussten im ersten Weltkrieg monochrome Stoffe noch von Hand mit Mustern versehen werden, ermöglichte die Entwicklung neuer Webverfahren die industrielle Fertigung langer Stoffbahnen. 1929 entwickelten italienische Künstler einen Tarnstoff, der einer der erfolgreichsten der Geschichte werden sollte. Die Telo Mimetico genannte Camouflage wurde ohne Unterbrechung bis 1990 vom italienischen Heer getragen. Ein Tarnbestseller, sozusagen.

Tarnstoffe wurden ab dem zweiten Weltkrieg zur Norm bei der Gestaltung von Kampfanzügen. 107 Nationen verwenden heute Camouflagemuster, um ihre Truppen einzukleiden. Dass dabei international erfolgreiche Klassiker entstanden sind, dürfte sich von alleine verstehen. Das US-amerikanische Woodland zum Beispiel oder das britische DPM (Disruptive Pattern Material). DPM wird seit seiner Entstehung in den 60ern in diversen Abwandlungen auf der ganzen Welt so viel getragen, dass es 1991 zu einer äußerst seltsamen Situation kam. Bei den Vorbereitungen des Kuwaitkriegs musste für die britischen Truppen ein neues Tarnmuster kreiert werden, stellte sich doch heraus, dass Saddam Husseins irakische Soldaten britisches DPM trugen.

Auch heute wird in den Laboren der Militärs mit allerlei High-Tech-Stoffen experimentiert. Moderne Aufklärungstechnologien stellen die Nachfolger der Camouflages vor immense Aufgaben. Klassische Tarnung kann wenig gegen computergestützte Wärmebildaufklärung und andere Technologien ausrichten. Es wird mit smarten Farben gearbeitet und retro-reflektive Materialien erprobt, die den Getarnten mithilfe kleinster Bildschirme an die Umgebung anpassen.

Es kann angesichts dieser weltweiten Erfolgsgeschichte nicht verwundern, dass sich verschiedene Künstler und allerlei Subkulturen die Prinzipien der Tarnung bald aneigneten: Die ersten Camoufleurs waren schließlich Künstler und der Krieg ein immer wiederkehrendes zentrales Thema der Kunst. Der britische Surrealist und im Auftrag seiner Regierung in Tarnfragen tätige Maler Roland Penrose stellte schon früh und immer wieder Bezüge zwischen der kubistischen Malerei und der Kunst der Camouflage her. Picasso soll sich sogar einmal dazu haben hinreißen lassen, zu behaupten, die Kubisten hätten Camouflage erfunden.

„Andy Warhol, silver screen, can’t tell them apart at all.“
David Bowie. Andy Warhol, RCA, 1971

Nach dem zweiten Weltkrieg spielten Künstler wie Jacquet, Boetti, Bourdin und Veruschka mit der Idee der Tarnung und der Camouflage. Annie Leibovitz fotografierte Keith Haring und andere Zeitgenossen immer wieder in „Tarnung“ und auch Warhol entdeckte das Thema für sich. Der Pop-Art-Gott gestaltete Portraits und Gemälde mit DPM und entwarf eigene Camouflages in Blau und Pink, die später von der Modeszene aufgegriffen wurden. Künstler spielten mit der Auflösung des Individuums vor dem Hintergrund einer sich immer weiter zersplitternden Welt. Graffiti schließlich eroberte das Urbane und begann die Dingwelt so zu gestalten, dass Gegenstände als sie selbst oft kaum noch wahrnehmbar waren.

In den Sechzigern trugen Hippies die buntbemalten Tarnanzüge ihrer in Vietnam kämpfenden Landsleute. „Camo“ wurde eine Geste des Widerstands gegen das verachtete bürgerliche Establishment. Dass damit der Trend des Upcyclings begann, war wohl nebensächlich. Sie brachten den Look auf die Straße. Bald trugen alle Camo. Bauarbeiter, Musiker, Sprayer, Punks, Skater und Skins. Schnell war auch die Haute Couture zur Stelle und zerrte den Straßentrend auf die Laufstege. Paul Smith, Marharishi, Dior, Miyake, Lagerfeld, Vuitton spielen immer wieder mit dem Stoff. Galliano postulierte um die Jahrtausendwende, Camouflage sei „das neue Leopard“. Designer benutzen bestehende DPMs, entwickeln sie weiter oder erfinden gleich ganz eigene. Wo die Mode hingeht, da folgen Stars und Sternchen. Camouflage wurde Mainstream. Eine Lifestyle-Entscheidung, die ihre militärischen Wurzeln fast vergessen ließ.

Ein nicht unerheblicher Teil der weltweit produzierten Camouflagestoffe erfüllt heute also keinen militärischen Zweck mehr. Wie Epauletten und Zweireiher ist Camo etwas Eigenes geworden. Trotzdem bleibt das Material im Kopf vieler Betrachter eng mit dem Krieg verbunden. Das geht so weit, dass einige Staaten das Tragen von Tarnstoffen verbieten. Die Bahamas zum Beispiel, Ghana, Grenada, Jamaika, St. Lucia und Süd-Afrika. (Informieren Sie sich also vor Antritt Ihrer Sommerfrische, bevor Sie plötzlich ohne Ihre geliebte Carhartt Camoshorts dastehen.)

„Camouflage has moved beyond its military heritage but in an unexpected context can still for the moment be subversive or simply make you smile. Camo has become a classic.”
Richard James, britischer Herrenschneider, 2002

Wie sehr sich die Geister an Camo scheiden, können wir in Zeiten europanaher Kriege erleben. Die Frage, ob man noch Camouflage tragen kann, wenn Krieg herrscht, ist sicher aus einer gewissen Perspektive nicht ganz unberechtigt. Doch es scheint, die Omnipräsenz der Kriegsbilder in den Medien schreckt weniger ab, als dass sie inspiriert. Fashionblogs und Magazine geben der stilbewussten Frau Tipps, wie sie den (einmal wieder) heißen Trend im Jahre 2023 kombinieren kann. Und auf den Laufstegen der Welt schicken die Designer ihre dünnen Männermodels in oversized geschnittenem DPM-Zeug vors Publikum, während Camo zeitgleich Einzug in die Fitness und sogar Yoga-Szene feiert.

Trotzdem kann nicht vergessen werden, dass unsere Fashionstatements nicht selten die Traumata anderer tangieren. Dass afrikanische Kindersoldaten im vorpubertären Alter in Camo zum Töten abgerichtet werden, während die gleichaltrige Martha mit Otto in ähnlichen Mustern auf dem Innenstadtspielplatz in Berlin Mitte spielen, ist nicht von der Hand zu weisen. Doch mit moralisch gestrecktem Finger auf das Zeug zu zeigen und sich empört gegen das Tragen von DPM zu stellen, ist ebenso unsinnig. Leugnen kann man auch nicht, dass allerlei politisch verwirrte Spinner eine Schwäche für den Tarnstoff haben und vergessen kann man auch nicht, dass künstlerische Avantgarden es ebenfalls lieben.

Viele von uns werden sich derlei Gedanken indes gar nicht machen und weniger aus Solidarität oder aus Widerstand zum Camo-Stoff greifen, sondern vielleicht eher aus der unbewussten Ahnung, dass auch nach vielen Jahrtausenden der Evolution Sichtbarkeit noch immer eine Falle ist.

 

Autor • Mark Horyna
Foto • David Clode, Unsplash

Erschienen in der Heritage Post No. 45

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