Über Streetwear

Über Streetwear

Streetwear ist der dominierende Modebegriff der letzten Jahrzehnte. Streetwear ist überall, und deshalb glauben alle zu wissen, was Streetwear ist und nach welchen Regeln sie funktioniert, allen voran die großen Modehäuser und die angesagtesten Labels. Und dabei reihen sie einen Irrtum an den nächsten. Denn Streetwear funktioniert nach ganz eigenen Gesetzen. Das erste lautet, dass es keine Gesetze gibt.

Nein, Streetwear heißt nicht, dass alle berufsjugendlichen Männer ab 40 wie auf geheimen Befehl plötzlich kollektiv enge Jeans und weiße Sneaker tragen müssen, so wie wir das seit ein paar Jahren allerorten erleben. Streetwear funktioniert sehr subtil, und eigentlich „funktioniert“ sie gar nicht, und genau das macht das Beschäftigen damit so spannend und das Missverständnis bei den meisten Menschen so groß. Ein Beispiel: Im Frühjahr 2023 erschien mal wieder eines dieser edlen, schweren, elegant designten Coffeetable-Books, mit denen man sich für einen leicht überteuerten Preis genau das in die eigenen vier Wände holen kann, was einem meist selbst fehlt, aber man nur allzu gerne gegenüber Gästen ausstrahlen möchte. In diesem Falle „Coolness. Die lässige Eleganz der Freiheit“. Vorne drauf Romy Schneider und Alain Delon, wie immer strahlend schön, innen drin jede Menge Altbekanntes und wenig Subtiles wie Ray-Ban, Rolex und natürlich Steve McQueen, dessen Zusatzbezeichnung „The King of Cool“ für den Fall eines letzten Nichtwissenden auf dieser Erde inzwischen offenbar gesetzlich vorgeschrieben ist, und auf der Rückseite ein paar markige Sätze, dass man hier erfahre, was schon immer cool war, dass es hier um „Attitude und Ästhetik“ von Coolness, um Coolness als „Haltung und Lebenseinstellung“ gehe, aber dass zugleich natürlich gelte, dass wer cool sein will natürlich total uncool ist, denn nur wenn man nicht cool ist, ist man undsoweiterundsofort. Während man noch versucht, den Knoten im eigenen Hirn zu lösen, reibt man sich gleichzeitig ungläubig die Äuglein und denkt sich, dass die vom Verlag doch auch gleich „Wenn Sie cool sind, kaufen Sie dieses Buch nicht“ auf den Umschlag draufschreiben hätten können. Zum schicken Buch gibt’s für die ganzheitliche Erfahrung natürlich noch die Pop-up-Ausstellung im Porsche Brandstore Stuttgart und die Spotify-Playlist mit Chris Rea und Michael Bublé obendrauf. Ist das nicht cool? Sagen wir es so: Teile meiner Antwort könnten Sie verunsichern. Aber das soll hier erstmal zweitrangig sein, denn viel interessanter ist, dass sich an diesem verkrampften Gewürge ablesen lässt, wie Coolness, Trends, Hypes und somit auch Subkulturen und Streetwear genau nicht funktionieren.

Man kann Subkultur nicht ohne „Kult“ buchstabieren, und wenn es überhaupt irgendeine Regel im Zusammenhang mit Subkulturen gibt, dann die, dass sich ein Kult nicht künstlich herstellen lässt. Schon gar nicht von Verlagen, Modehäusern, Werbeabteilungen oder Marketingstrategen. Jegliche Versuche in diese Richtung sind meist gründlich in die Hose gegangen oder haben traurige Berühmtheit erlangt, wie 2022 der ordentlich vergeigte PR-Stunt des Modehauses Balenciaga, das sich mit Kanye West die erwünschte Street credibility einkaufen wollte und es am Ende mit einem antisemitischen Volltrottel zu tun hatte, was zum exakten Gegenteil geführt hat. Oder hat es das doch nicht? Weil Streetwear eben keinen Regeln folgt? Weil es keine schlechte Werbung gibt? Getreu dem alten PR-Motto „Call me asshole, but spell my name correctly“? Ja, es ist kompliziert. Weil coole Menschen von der Straße einen untrüglichen Riecher für alles haben, das nicht wirklich authentisch daherkommt, sondern auf den Flipcharts kommerzieller Unternehmen konzipiert wurde. Streetwear war und ist schließlich zuallererst immer ein Ausdruck von Individualität gewesen, von Nonkonformismus, von Andersartigkeit, vom Austesten und Neusetzen von Grenzen. Um zu verstehen, was damit gemeint ist, muss man sich zunächst vergegenwärtigen, dass bis um die Wende zum 20. Jahrhundert alles, was sich mit dem Begriff „Mode“ umfassen ließ, ausschließlich dem reichen, privilegierten Teil der Menschheit vorbehalten war. Sprich, nur Wohlhabende konnten es sich leisten, ihre Persönlichkeit durch besondere Kleidung auszudrücken. Der arbeitende Rest der Bevölkerung trug vor allem funktionale Bekleidung, die der Ausübung seiner meist körperlichen Tätigkeiten zu dienen hatte; Aspekte wie Mode, Individualität oder Zeitgeist spielten hierbei keine Rolle. Allenfalls beim Sonntagsanzug oder -kleid konnte man sich im Nanobereich von seinen Mitmenschen absetzen, ansonsten galten Konformismus und Funktionalität.

Foto • Trinity Mirror, Mirrorpix, Alamy Stock Foto

Betrachtet man heute alte Fotos von Bau- oder Hafenarbeitern aus der Zeit um die Jahrhundertwende, dann entdeckt man, wie manche der Portraitierten ihre Arbeitskleidung etwas lässiger tragen als andere: Da wird mal eine Weste nur am obersten Knopf zugeknöpft, da werden Hemdsärmel aufgekrempelt, da wird eine Mütze lässig in den Nacken geschoben oder schräg aufgesetzt oder ein Hosenbein umgeschlagen und eine Zigarette hinters Ohr gesteckt. Kleine Zeichen von Individualität, ja von einer gewissen Aufmüpfigkeit sogar, wie ein Zeichen an die Oberen: Okay, wir sind zwar Arbeiter und können uns keine Mode leisten, aber wir loten die Grenzen der uns vorgegebenen Welt aus und irritieren euch mit Ideen und Codes, die uns gehören und die provokant und cool sind. Auch wenn damals natürlich noch niemand eine konkrete Vorstellung von „cool“ hat. Diese Transformation um die Jahrhundertwende kann man im Rückblick als den Ursprung dessen benennen, was später mit „Streetwear“ bezeichnet wird. Ein weiteres wesentliches Merkmal wird die Dekontextualisierung der Arbeitsbekleidung. Etwas weniger hochtrabend ausgedrückt: Schuhe, Hosen oder Jacken aus der Arbeitswelt werden nun auch im Privaten getragen, werden modifiziert, umgeschneidert oder bewusst „out of context“ getragen. Ein Beispiel: Das Hosenbein einer Arbeitshose aus Leinen oder Denimstoff wurde ursprünglich aufgekrempelt oder umgeschlagen, weil es in den Fabriken oder Werften meist Einheitsgrößen gab, die nicht jedem Arbeiter passten; oder weil man die Hose von jemand anderem vererbt bekam, so wie auch in der Familie, wo die Klamotten des älteren Bruders vom jüngeren aufgetragen werden mussten. Irgendwann aber fingen Arbeiter an, ihre Hosenbeine einfach so umzuschlagen, ohne konkreten Grund oder praktischen Nutzen, sondern vielmehr, weil es Ausdruck ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht war oder weil sie einfach fanden, dass es lässiger aussah und man ihre Stiefel darunter besser sehen konnte. Später, in den 1950er Jahren, wurde dieser Stil von den amerikanischen Rockabillies oder den englischen Teddyboys übernommen, die ihre Jeans oder Slacks aufkrempelten. Auch die britischen Skinheads der ersten Generation Ende der 60er Jahre krempelten ihre Jeans auf oder trugen gleich „Hochwas-ser“-Hosen, damit man ihre schweren Arbeiterstiefel mit den Luftpolstersohlen sehen konnte, die bis dato von Eisenbahnern, Postbeamten oder anderen Arbeitern getragen wurden, die in ihrem Alltag viel laufen und hart schuften mussten. Die Botschaft dahinter: Wir brauchen keine Mode, wir machen uns unseren Style selber, und er hat originär mit unserer Herkunft zu tun – und die hat keinen Bezug zur Welt der Schönen und Reichen und der Hochglanzmagazine und Shoppingschaufenster, sondern: zur Straße. Diese Botschaft war denkbar stark und kam vor allem bei der Jugend hervorragend an.

Mindestens genauso wichtig wie der Einfluss der Arbeiterkleidung auf die frühe Streetwear war der Einfluss der Militärbekleidung. Bereits nach Ende des Ersten Weltkriegs ließ sich beobachten, wie heimgekehrte Ex-Soldaten in England Gefallen an ihren treuen Stiefeln gefunden hatten und sie nun auch im Privaten trugen. Noch einflussreicher war aber schließlich der Zweite Weltkrieg: Ab Ende der 1940er Jahre sah man sowohl den Trenchcoat (ursprünglich produziert für die „trenches“, die Schützengräben) als auch den British Warm (ein wollener Übermantel für die Uniform) immer häufiger auf den Straßen, ebenso Cargohosen, Fliegerjacken, Pilotenbrillen und so weiter.

Die vor allem in den USA und England entstehende Biker-Kultur – die auf Kriegsheimkehrer zurückzuführen ist, die Gefallen an ihren schweren Maschinen aus dem Kriegsdienst gefunden hatten und nun weiter schrauben und herumfahren wollten – hatte hier einen erheblichen Einfluss. Dieser wiederum befruchtete wenige Jahre später maßgeblich die Entstehung des frühen Looks der Rock’n’Roll-Kultur mit Lederjacke, Engineer Boots, weißem T-Shirt und Lederkappe. Die britischen Teddyboys der 50er Jahre kombinierten diesen Look wiederum mit Elementen aus dem post-viktorianischen Kleidungsstil König Edwards VII. der Jahrhundertwendezeit. Die frühen Punks der 70er Jahre zitierten diesen und kompilierten ihn erneut, und die Psychobillies der 80er Jahre transformierten ihn in eine härtere Ausprägung.

Es ließen sich ganze Bücher füllen mit derlei Beispielen, wie, wann und wo welches Element aus der Arbeits- oder Militärwelt welche Subkultur oder welche Streetwear beeinflusst hat – aber das Warum, das ist die eigentlich spannende Frage, und das ist die, die den Produktentwicklern, Modedesignern und Werbeagenturen seit jeher Kopfzerbrechen bereitet. Denn in den letzten hundert Jahren ist es so gut wie niemandem gelungen, einen Look künstlich zu produzieren, der auch von der Straße akzeptiert und aufgegriffen wurde. Als bekannteste Ausnahme fällt einem da allerhöchstens Vivienne Westwood ein, die ab 1976 den Look vermarktete, den alle Welt bis heute mit Punk verbindet – also stachelige, bunte Haare, Sicherheitsnadeln, zerrissene T-Shirts und Domestos-Jeans – obwohl der authentische Punk-Look rein gar nichts damit zu tun hatte und bereits Jahre früher entstanden war durch ikonische Pioniere wie die New York Dolls, MC5 oder Iggy Pop & The Stooges, und der aus einer spannenden Mischung aus Rock’n’Roll-Klamotten und Crossdressing bestand.

Überhaupt ist es interessant zu beobachten, wie sich Streetwear verändert und bestimmte Kleidungsstücke, die ganz klar mit einer Aussage, also einem subkulturellen Code verbunden sind, über die Jahre durch subtile Strömungen in gänzlich andere Subkulturen diffundieren. Nehmen wir als Beispiel den zuvor erwähnten Arbeitsschuh mit der Luftpolstersohle, der durch die frühen Skinheads und anschließend durch die Punks bekannt wurde: Bis in die frühen 90er Jahre hinein war der ursprünglich deutsche Doc Martens-Stiefel etwas geradezu Sakrales, das man sich nicht einfach kaufen konnte beziehungsweise durfte, sondern für dessen Erwerb man sich eine Art Genehmigung erarbeiten oder verdienen musste bei der jeweiligen subkulturellen Gang seiner Stadt, zu der man als junger Mensch dazugehören wollte. Und nannte man dann solch einen heiligen Schuh endlich sein Eigen, bestimmte als nächstes die Farbe der Schnürsenkel darüber, ob man den Abend ketterauchend mit seinen neuen Kumpels in der Kneipe verbrachte oder doch mit Nasenbeinbruch in der Notaufnahme. Ja, so wichtig konnte ein Schuh und sein Kontext sein. Heutzutage können Doc Martens in jedem Shopping-Center gekauft werden und das zu Permira gehörende Unternehmen ist milliardenschwer. Getragen werden sie von Emo-Kids über Großstadt-Hipster bis hin zu Taylor Swift-Fanmädels und deren Müttern, die allesamt nicht mehr die geringste Ahnung haben, woher ihre Docs eigentlich immer noch das Image des Rebellischen haben. Und das ist auch nicht schlimm, denn es beweist nur einmal mehr die Unbeherrschbarkeit von Streetwear, die darauf basiert, dass sich eine sehr kleine Gruppe von Eingeweihten einen Style erschafft, auf den man im Leben nicht kommen würde.

Auch hierzu ein denkbar berühmtes und legendäres Beispiel: Die Entstehung der Hip-Hop-Kultur wurde musikalisch wie bekleidungstechnisch wesentlich von Deutschland beeinflusst – aber nicht, weil Deutschland gegen Ende der 70er Jahre etwa in irgendeiner Form cool war, sondern ganz im Gegenteil das Abseitigste, was man sich vorstellen konnte. Was natürlich total cool ist, Sie verstehen schon. Wie die Musik von Kraftwerk den frühen New Yorker und Detroiter Hip-Hop beeinflusste, ist hinlänglich bekannt, aber warum die schwarzen Kids dazu ausgerechnet Tracksuits und Turnschuhe von Adidas trugen, wusste man nicht so recht (sie sollen der Legende nach über deutsche Austauschschüler an amerikanischen High Schools und Colleges importiert worden sein). Jahrzehnte später wird dieser inzwischen etablierte und längst im Mainstream angekommene Look erneut auf eine Weise aufgefrischt, die sich niemand hätte ausdenken können: Pharrell Williams erscheint bei der Grammy-Verleihung 2014 mit roter Adidas-Tracksuit-Jacke und trägt dazu schwere Arbeitsstiefel und den überdimensionierten Mountie-Hut der kanadischen berittenen Polizei. Ein völlig neuer, völlig absurder und zugleich völlig genial-lässiger Look, der nicht nur Williams’ Verständnis für die historisch-popkulturelle Bedeutung von Workwear für Streetwear beweist, sondern der medial zugleich voll durch die Decke geht. Man konnte in diesem Moment förmlich all die PR-Manager und Werbeagenten hören, wie sie synchron mit der Stirn auf die Glastische ihrer Corner offices knallen und dabei verzweifelt aufschluchzen, warum ihnen wieder einmal nicht selbst so etwas Cooles eingefallen ist. Das Beispiel mit Adidas im amerikanischen Hip-Hop funktioniert seit gut zwei Jahrzehnten aber auch in die andere Richtung: Hier bei uns zählen Brands wie Carhartt oder Dickies untrennbar zur Streetwear auf deutschen Straßen und sind sowohl in die Hip-Hop- und Rap-Szene als auch in die Welt des House und Elektro und der Indie-Kids diffundiert. In den USA des Mittleren Westens zählen diese amerikanischen Marken aber weiterhin zur Arbeitsbekleidung von Bauarbeitern und haben dort somit einen Coolness-Faktor von knapp über Null.

Es ließen sich noch seitenweise herrliche Beispiele von derlei jeglichen Marketingregeln widerstrebenden Beispielen finden, wie völlig gegensätzliche und auf den ersten Blick widersinnige Bekleidungselemente zum festen Bestandteil einer Subkultur oder eines speziellen Streetwear-Styles wurden. Und ganz sicher fallen Ihnen in diesem Moment noch Dutzende ähnlich verrückt-coole Geschichten ein, zum Beispiel zu bodenlangen, riesigen Daunenjacken bei Fußballern oder zu LVMHs Birkenstock-Sandalen auf Pariser Modeschauen oder zu japanischen Souvenir Jackets aus Satin oder zu Geldbörsen mit schweren Ketten oder Lederriemen, und so weiter.

Aber wissen Sie was: Am besten kreieren Sie gleich Ihren ganz eigenen, ganz individuellen Streetwear-Stil. Folgen Sie dem einzigen Gesetz der Straße, dass es keine Gesetze für Streetwear gibt! Seien Sie Ihre eigene Subkultur! Die Zeiten sind freudlos genug, also haben Sie wenigstens Spaß an Ihrem ganz persönlichen Stil. Authentisch und cool wird er dadurch von ganz allein.

 

Autor • Mathias Lösel
Foto • Julian Myles, Unsplash

Erschienen in der Heritage Post No. 49

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